Jahrespressekonferenz: Autojahr 2023 wird für das Kfz-Gewerbe zum Ritt auf der Rasierklinge
„Als Ritt auf der Rasierklinge“, beschrieb Präsident Michael Ziegler heute bei der Jahrespressekonferenz des Verbandes des Kraftfahrzeuggewerbes Baden-Württemberg in Stuttgart, was dem Kraftfahrzeuggewerbe aus seiner Sicht im laufenden Jahr und den kommenden Jahren bevorsteht: „Drahtseilakt ist als Bild viel zu schwach angesichts des Wandels, den wir im Bereich des Fahrzeughandels und des -service erfolgreich bewältigen müssen.“
Zum Ritt auf der Rasierklinge trage auch die wirtschaftliche Lage der Kfz-Betriebe bei, obwohl diese 2022 schwarze Zahlen brachte: „Wir haben im Gesamtumsatz von Neu- und Gebrauchtwagen ein Plus gemacht“, sagte Verbandspressesprecherin Birgit Leicht. Was für den Präsidenten beim Blick nach vorn auf das Autojahr 2023 aber keine Entspannung bringt: „Wir haben seit über einem halben Jahr einen drastisch sinkenden Auftragseingang.“ Für die „Kunden steht ihre bezahlbare individuelle Mobilität auf dem Spiel“, beschreibt er die Folgen der „Neuaufteilung des Marktes“. Einerseits seien da die etablierten Hersteller, die über Agentursysteme nach höheren Renditen zu Lasten der Autohäuser und Kunden strebten. Anderseits stünden chinesische Hersteller bereit, um „in die sich auftuenden Lücken zu stoßen.“ Kritik übt der Verband an der Landesregierung: „Mit der Kürzung der Mittel für die Berufsschulen und die Bildungsstätten des Handwerkes setzt die Landesregierung im aktuellen Haushalt ein vollkommen falsches Signal.“ Die Kfz-Betriebe und deren Auszubildende und Beschäftigte brauchten „in der Transformation bessere Bildungsangebote, nicht eine Verschlechterung“, sagt Pressesprecherin Birgit Leicht.
Michael Ziegler und Birgit Leicht beleuchteten bei der Jahrespressekonferenz die Entwicklung aus Sicht der Betriebe und deren Kunden. Alle Zahlen belegten, „das Auto ist die unangefochtene Nummer 1, wenn es gilt, die Mobilitätswünsche der Menschen umzusetzen“, so Ziegler: „Selbst die vom Umweltbundesamt veröffentlichten Daten rütteln nicht daran und das will bei der Ausrichtung dieser Behörde etwas heißen. Der motorisierte Individualverkehr sichert mit 73,6 Prozent fast drei Viertel der individuellen Mobilität.“
Deswegen sei es ernst zu nehmen, „wenn sich die Menschen inzwischen sorgen, sich kein Auto mehr leisten zu können. Wir müssen dabei bedenken, dass nach vorliegenden Daten 48 Prozent der Steuerzahler in Baden-Württemberg unter 30.000 Euro Jahreseinkommen versteuern und ein Drittel davon sogar unter 15.000 Euro. Menschen in diesen Einkommensklassen dürfen von bezahlbarer individueller Mobilität aber nicht ausgeschlossen werden.“
2022 war der Markt in Baden-Württemberg von steigenden Preisen gekennzeichnet, fasst Birgit Leicht dessen Entwicklung zusammen. So wurden zwar fast 134.000 Neu- und Gebrauchtwagen weniger verkauft, aber höhere Preise sorgten dafür, dass „der Gesamtumsatz im Mobilitätsmarkt im Land um fast 2,8 Milliarden Euro (8,5 Prozent) auf 35,4 Milliarden Euro gewachsen ist. Der Anteil des Kraftfahrzeuggewerbes stieg dabei allerdings unterproportional um 936,7 Millionen Euro oder 3,8 Prozent und beträgt jetzt gut 25,4 Milliarden Euro oder 71,8 Prozent am Gesamtumsatz.“ Das Gewerbe teile sich den Markt mit zwei anderen Akteuren. „Da sind einerseits die Verkäufe von Privat an Privat im Gebrauchtwagenbereich. Andererseits treten die Autohersteller beim Neuwagenverkauf als direkte Konkurrenz zum Handel über unsere Betriebe auf,“ so Leicht.
Das Agieren der Hersteller sieht Verbandspräsident Ziegler dabei besonders kritisch: „Durch die Online-Affinität der Kunden versuchen die Hersteller immer stärker, Wertschöpfung aus dem Handel abzuziehen.“ Rund 142.000 Neuwagen oder knapp 39 Prozent der 2022 im Land ausgelieferten Pkw seien direkt über die Vertriebskanäle der Hersteller gelaufen.
„Mit Agentursystemen greifen die Hersteller die Wurzeln des Autohandels an“, bringt Michael Ziegler das zweite Problem auf den Punkt, „weil Hersteller den Handel durch Agenturmodelle gefährden, wenn es keine fairen Vergütungen gibt“. Das gelte nicht nur im Neuwagen-, sondern auch im Gebrauchtwagenbereich. „Mit dem Agentursystem erlangen die Hersteller Zugriff auf Rückläufer beispielsweise aus Leasingverträgen. Aber das Gebrauchtwagengeschäft ist für die Erträge der Händler und die Wirtschaftlichkeit der Autohäuser von zentraler Bedeutung. Wenn sich dieses zu den Herstellern verlagert, hat das gravierende Auswirkungen auf die Ertragslage der Händler.“ Dann sei auch „die zweite und wesentliche Säule des Autohandels in Gefahr: der Handel mit jungen Gebrauchtwagen, die sich einer hohen Nachfrage bei den Kunden erfreuen. Die Hersteller sind gar nicht dafür aufgestellt, dieses kleinteilige Retail-Geschäft zu übernehmen. Wenn sie es dennoch versuchen, werden sie scheitern, aber den Schaden haben wir alle.“
Der Systemstreit zwischen Agentursystem und klassischem Autohandel sei aber noch nicht entschieden, da inzwischen die chinesischen Hersteller bereitstünden, in entstehende Lücken hineinzustoßen, sagte Ziegler. Eine definiert er so: „Dem Handel fehlen Neuwagen zwischen 20.000 und 30.000 Euro - insbesondere im Segment der E-Autos.“ Das habe zusammen mit der Kürzung der Förderung Folgen: „Das überproportionale Wachstum der E-Mobilität hat im Jahr 2023 voraussichtlich ein Ende.“
Bei den Werkstätten sieht der Verband die Kfz-Betriebe gut aufgestellt. Das lasse sich auch beim Werkstattverhalten ablesen. Der Service hat mit 3,8 Milliarden Euro um 10,8 Prozent zugelegt. Eine gestiegene Stammkundenquote in Werkstätten, ein weiterhin hohes Wartungsverhalten, aber weniger Reparaturarbeiten seien laut DAT die aktuellen Folgen der bisherigen Entwicklung.
Allerdings sei auch die gute Position der Werkstätten in Gefahr: „Bei Fahrzeugdaten laufen schon die ersten Angriffe seitens der Hersteller.“ Mit Blick auf die Zukunft der Werkstätten sei auf EU-Ebene die Datenfrage ein Schlüsselproblem, denn die Hersteller versuchten die fahrzeuggenerierten Daten für sich zu monopolisieren. Ziegler: „Wir brauchen eine sektorspezifische Regelung zu diesen Daten. Denn ohne diese und den darauf aufbauenden Geschäftsmodellen fehlt den freien Kfz-Betrieben in Zukunft die Geschäftsgrundlage.“ Und auch die Markenautohäuser würden noch abhängiger vom Hersteller. Ein großes Betriebesterben, weniger Auswahl und höhere Preise für Werkstattkunden wären die Folge.“
„Wenn wir die Lage in einen zusammenfassenden Schlusssatz packen, heißt dieser für mich: Wer Menschen Mobilität aufzwingen will, die diese nicht wollen, wird scheitern.“ Der Verband werde die Interessen seiner rund 81.000 Beschäftigten in Autohäusern und Kfz-Werkstätten und die der Kunden im Auge haben, sagt Michael Ziegler: „Unsere Umsatzrendite liegt 2022 mit 3,3 Prozent bei einem Fünftel dessen, was manche Hersteller einfahren. Trotzdem sind wir zufrieden, weil wir uns erstmals in einer Größenordnung bewegen, die wir bisher immer nur als Zielgröße kannten. Aber wie gesagt, der Markt wird voraussichtlich Ende 2023 kippen, die Auftragseingänge sind nachhaltig schwach.“
Ziegler abschließend: „Wenn deutsche Hersteller in dieser für sie aktuell komfortablen Lage ihrer ausländischen Konkurrenz Tür und Tor öffnen, werden wir als Kfz-Gewerbe darauf reagieren. Wir brauchen im preissensiblen Bereich genügend Angebote, um die bezahlbare individuelle Mobilität sicherstellen zu können – das ist auch aus Kundensicht ein wesentliches Thema. Was da passieren kann, zeigt uns die Geschichte des Mobiltelefons. Es kauft heutzutage keiner mehr ein deutsches Smartphone – vor allem, weil es gar keine mehr gibt, seit Siemens das Geschäft verkauft hat.“
Quelle: Verband des Kraftfahrzeuggewerbes Baden-Württemberg e.V.